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Stumm im Völkermord
Mit «The Cut» wagt sich der deutschtürkische Regisseur Fatih Akin an ein heikles Thema: Den Völkermord an den Armeniern. Doch sein Film passt sich der offiziellen türkischen Geschichtsschreibung an.

Vielleicht kann man es als Hinweis verstehen, in welcher Liga Fatih Akins neuer Film mitspielen wollte. Im Abspann von «The Cut» findet man den Ausstatter von Spielbergs «Schindler’s List», den Maskenbildner von Roman Polanskis «The Pianist» und in einer Nebenrolle Arsinée Khanjian, die in Atom Egoyans «Ararat» die Hauptrolle spielte. Grosse Werke, Starregisseure. Doch die Verbindung zu einigen der wichtigsten Filme, die von den Tragödien des jüdischen und armenischen Volks erzählen, macht nur das Gefälle zum Film von ­Fatih Akin deutlich. Er wirkt im Vergleich so flach wie die mesopotamische Ebene, wo die Erzählung beginnt.

Ein Märchen könnte es sein, auf der Leinwand erscheinen die Worte «Once upon a time», es war einmal. Dann zoomt die Kamera auf eine Karte, auf Mardin, eine Stadt im Süden der heutigen Türkei. Hier stutzt man zum ersten Mal. Statt auf einen mit armenischer Geschichte tief verbundenen Ort – Cilicien, Zeytun oder Van – fällt die Wahl auf eine Stadt, in der kaum Armenier lebten. Nach historischen Quellen machten sie 6 Prozent der christlichen Bevölkerung aus. Die anderen 94 Prozent waren assyrische Christen, und die Kirchtürme, die man in ersten Bildern sieht, sind typisch für die assyrische Architektur.

Akin bricht kein Tabu

Man kann es künstlerische Freiheit nennen. Aber man kann das auch als erstes Symptom eines Films betrachten, der seltsam beliebig ist in dem, was er zeigt – und ebenso seltsam präzise in dem, was verborgen bleibt. Die Geschichte konzentriert sich auf ein Einzelschicksal. Nach idyllischen Familienszenen wird der armenische Schmied Nazaret (Tahar Rahim) «auf Befehl des Sultans» abgeholt und zur Zwangsarbeit im Strassenbau verschleppt.

Doch was den Armeniern im Jahr 1915 widerfuhr, erfährt man konkret nur in wenigen, symbolisch überfrachteten Szenen: Zuerst als die Zwangsarbeiter umgebracht werden und nur Nazaret überlebt, gerettet von einem barmherzigen Türken, aber am Hals verwundet und fortan stumm. Dann, als Nazaret in Ras al-Ayn auf ein Lager voller siechender Armenier trifft (im Begleitmaterial als «Flüchtlingscamp» bezeichnet), wo er eine Verwandte findet und sie auf ­ihren Wunsch hin vom Leid «erlöst», ­indem er sie erwürgt. Darauf kratzt er sich verzweifelt mit einem Stein das tätowierte Kreuz vom Handgelenk.

Unschwer lässt sich darin die Denkfigur erkennen: «Wie kann es einen Gott geben, wenn er so etwas zugelassen hat?» Ein moralisches Fazit, das umso dünner wirkt, als der Film die brisantere Frage nach irdischer, also politischer Verantwortung kein einziges Mal stellt. Stattdessen verlässt Fatih Akin schnell das heikle Gebiet und erzählt die universelle und also unverfängliche Geschichte eines Vaters, der über Jahre hinweg im Libanon, auf Kuba und in den USA seine verlorenen Zwillingstöchter sucht.

Vom Grauen ist da wenig zu sehen. Und selbst das Wenige wirkt ästhetisch verkünstelt, eher eine Verharmlosung denn eine Verstärkung. Dabei schien der Film eine politische Relevanz zu erhalten, indem gebetsmühlenartig wiederholt wurde, Fatih Akin breche mit «The Cut» in der Türkei ein Tabu. Genau das tut er nicht. Ein westliches Missverständnis: Nicht das Thema ist tabu in der Türkei, entscheidend ist die Wortwahl. Offiziell wird von «tragischen Ereignissen» gesprochen, unerwünscht ist das Wort «Genozid», das staatliche Verantwortung einschliessen würde.

Die mordenden «Osmanen» werden in Fatih Akins neuem Film zu ihren Taten gezwungen – offen bleibt, von wem. Foto: PD

«The Cut» bleibt in diesem Punkt ­historisch diffus: Armenier werden «auf Befehl des Sultans» abgeführt – der hatte damals längst keine Regierungsgewalt mehr. Die Zwangsarbeiter werden nicht von Gendarmen oder Soldaten, sondern von «Söldnern» abgeführt; offen bleibt, in wessen Sold sie stehen. Die Mörder sind selbst Gefangene, werden gezwungen zur Tat – aber von wem? Im Film wird nicht, wie es als gängiger Ausdruck historisch belegt wäre, von Türken, sondern von «Osmanen» gesprochen, was dem heute offiziell geduldeten Vokabular in der Türkei entspricht. Ins ungeschriebene Regelwerk passt auch, dass der Film ohne erkennbaren dramaturgischen Grund 1923 endet – also im Jahr der Staatsgründung. Dann beginnt das Kapitel der modernen Türkei, aber der Film will jeden Zusammenhang damit vermeiden.

Die deutsche Mitschuld

In solchen Details wirkt der Film, frei nach Umberto Eco, «doppelcodiert». Weil Akin den Völkermord thematisiert, versteht man den Film im Westen als Tabubruch – während offizielle Stellen in der Türkei zwischen den Zeilen lesen werden, dass der Film sich genau an die ungeschriebenen Regeln hält. Das Geschrei von Ultranationalisten passt, werbewirksam, zur Lesart des Westens. In Wirklichkeit dürfte einem derart angepassten Film kein Aufführungsverbot drohen in der Türkei.


Eine andere Frage berührt «The Cut» gar nicht: die der deutschen Mitverantwortung. Auch mit türkischer Abstammung bleibt Akin ein deutscher Regisseur, «The Cut» eine hauptsächlich deutsche Produktion und das Ausmass deutscher Mitverantwortung massiv. Im Ersten Weltkrieg rüstete das Deutsche Reich den kaum noch einsatzfähigen «kranken Mann am Bosporus» systematisch zum militärischen Vorposten hoch. Bei Kriegsbeginn besetzten deutsche Generäle die höchsten Positionen der türkischen Armee. Doch der Einfluss wurde nie genutzt, um dem Morden abseits der Front Einhalt zu gebieten. Die deutsche Regierung war über die «tragischen Ereignisse» vollumfänglich informiert – und sorgte mit strengen Zensurmassnahmen dafür, dass die deutsche Öffentlichkeit nichts erfuhr.

Das war kein Wegschauen, sondern kausale Mitverantwortung. Deutschland verlangte, der Sultan möge einen «heiligen Krieg» ausrufen. Man hoffte, dadurch würden sich Muslime in den Kolonien der Kriegsgegner Frankreich und England erheben. Neu an diesem «Jihad made in Germany» war, dass er entgegen dem islamischen Recht das Töten von Zivilisten erlaubte. Auf die Warnung von Experten, der Aufruf würde für christliche Minderheiten im osmanischen Reich fatale Folgen haben, würde Legitimation, ja Aufforderung zur Ermordung von Andersgläubigen bedeuten, entgegnete ein Regierungsberater: «Krieg ist Krieg und kein Sport».

So spiegelt der Film auch eine Lücke im deutschen Geschichtsbewusstsein. In einem Land, das seine Vergangenheit fast obsessiv bewältigt, hat dieses historische Kapitel nie eine breite Debatte ausgelöst. Es bleibt ein Tabu, ein echtes, das ganz ohne Regierungsanweisung wirkt. Fatih Akin standen Quellen zur Verfügung, die diese Mitverantwortung thematisieren – eingeflossen ist davon nichts. Auch über den Sultan und die ­Osmanen scheint, trotz historischer ­Beratung, niemand gestolpert zu sein.

«The Cut» weicht aus, anstatt zu konfrontieren. Das Diffuse und Unerwähnte gibt dem Film einen opportunistischen Beigeschmack. Dass er ausgerechnet jetzt in die Kinos kommt, während (wieder in Mesopotamien) Christen verfolgt werden, konnte keiner wissen. Doch die realen Bilder lassen, auch ohne historische Kenntnisse, ahnen, was diesem Film fehlt, der «Epos, Drama, Abenteuerfilm und Western zugleich» sein will: ein Sinn für Wirklichkeit.

Quelle: http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/kino/Stumm-im-Voelkermord/story/24090159

 

  
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